In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

 

Chris Gall & Bernhard Schimpelsberger

Myriad

GLM / Soulfood

5 Sterne

Zwei Magier unter sich: Wenn Chris Gall und Bernhard Schimpelsberger gemeinsam in ihr Klang-Multiversum abtauchen und eine Myriade Ton-Kombinationen durch ihre Finger gleiten lassen, können Jazz-Muggel nur staunend danebenstehen und mit weit aufgerissenen Ohren erleben, wie Melodie und Rhythmus das Tor zu einer neuen Welt nach der anderen öffnen. Schon vor gut drei Jahren hat das geniale Duo in den Bauer Studios Ludwigsburg eine kleine Session aufgenommen und veröffentlicht; nun haben sie endlich ein vollständiges Album herausgebracht, das zusätzliche Dimensionen erkennen lässt, mal zärtlich, mal meditativ, mal groovend, aber immer faszinierend. Das Geheimnis von Gall und Schimpelsberger liegt darin, dass ihre Musik bei aller Komplexität zunächst überaus gefällig daherkommt, am Rande dessen, was gerne als Lounge-Jazz abgetan wird. Doch das ist nur die Oberfläche: Mal setzen sie eine der Urformen des Flamenco („Segeriyua“) so wunderbar entspannt um, dass die rhythmische Vertracktheit erst nach einigen Minuten zu spüren ist, dann wieder komprimieren sie eine John-Cage-Komposition („In a Landscape“) alleine durch eine Änderung der Intensität. Im fantastischen „Poem on a Typewriter“ kulminiert dieser Tanz zwischen den Stilen: Schimpelsberger greift auf die alte Kunst des indischen Scat-Gesangs Konnakol zurück, und Gall lässt ihn machen, trägt ihn, geht auf ihn mit einer Vertrautheit ein, als hätten er und sein Kollege schon immer zusammengespielt. Sie ergänzen sich, verstehen sich blind und schaffen so einen musikalischen Tanz, der seinesgleichen sucht. Und das ist letztlich der größte Zauber.

Thomas Kölsch

Jazzrausch Bigband

Beethoven’s Breakdown

ACT / Edel:Kultur

4 Sterne

Dass eine Bigband eng mit dem Namen eines konkreten Etablissements verbunden wird – wie etwa das Duke Ellington Orchestra mit dem Cotton Club –, gehört fast schon zur Folklore in der Geschichte der groß besetzten Jazz-Tanzorchester. Allerdings dürfte die Jazzrausch Bigband die weltweit einzige sein, die als Hausband eines Technoclubs fungiert. 2014 im Münchner Club Rausch & Töchter – daher der Name des Ensembles – gegründet, fungiert die Formation um den Posaunisten Roman Sladek mittlerweile als Resident Bigband in der international renommierten Club-Institution Harry Klein. Ein Alleinstellungsmerkmal, das auch musikalische Konsequenzen hat: Ihre Verschmelzung klassischer Bigband-Jazz-Ästhetik mit den Grooves der Techno- und Housemusik steht im Rang einer Erfindung. Nach dem Weihnachtsalbum Still! Still! Still! ist Beethoven’s Breakdown ihr zweiter Longplayer für Siggi Lochs ACT-Label. Pünktlich zum Jubiläumsjahr hat Gitarrist Leonhard Kuhn, der Hauptarrangeur der Jazzrausch Bigband, ikonische Werke des Komponisten wie die Mondschein-Sonate, das Allegretto der 7. Sinfonie und das 14. Streichquartett für seine Mitstreiter bearbeitet. Verfremdung und Rhythmisierung bestimmen den Umgang mit dem Ausgangsmaterial, das dadurch relativ weit in den Hintergrund tritt. Somit kommt Beethoven kurioserweise in den vier Sätzen der von Kuhn komponierten „Sonata“, für die Nils Landgren als Solist gewonnen werden konnte, am deutlichsten zu Ehren. Mehr Update als Hommage, kommt Beethoven’s Breakdown unterm Strich dennoch eine Spur zu clever und kalkuliert rüber.

Harry Schmidt

Rain Sultanov

Influence

Ozella / Galileo

3,5 Sterne

Auf Influence kehrt der 1965 in Baku, Aserbaidschan geborene Saxofonist Rain Sultanov zu seinen Wurzeln zurück. Die Wurzeln sind hierbei die wichtigsten Musiker, die ihn in seiner Musikerlaufbahn entscheidend geprägt haben: Coltrane, Mike Brecker, Zawinul, Kenny Wheeler etc. Bei aller Unterschiedlichkeit seiner Vorbilder irritiert etwas die gewählte Präsentation der klanglichen Huldigungen. Die quasi kammermusikalische Besetzung mit Sopransax, Piano, Akustikbass und kaum vernehmbarer, zurückhaltender Gitarre auf einem Stück, aber insgesamt ohne Drums, verwundert angesichts der Tatsache, dass z.B. Brecker und Zawinul, was Klang-Power und rhythmisches Feuer angeht, zum großen Teil für eine andere Energie stehen. Die 7 Tributes wurden im Mai 2018 im berühmten Rainbow-Studio in Oslo aufgenommen und atmen nicht zuletzt deswegen den Spirit der ECM-Sound- und Stilästhetik. Sultanovs Sopran klingt somit zeitweilig auch wie Garbarek, aber eben verhaltener und nicht so beißend und druckvoll-flehend. Der vorzügliche Pianist Isfar Sarabski fügt sich ebenso nahtlos in den Flow der eher traurig- melancholischen wie verhangenen und langsam fortschreitenden Musik ein. Auf lediglich zwei, drei Stücken wird dieser Pfad zugunsten einer leichten Heiterkeit verlassen. Etwas eigenwillige Widmung, aber dennoch hoch emotionaler „lyrical chamber jazz“, der sich zufällig vorzüglich in die zwangsverordnete Entschleunigung unserer neuen gesellschaftlichen Gemengelage einpasst und zur Spurensuche der musikalischen Identiten der verehrten Protagonisten einlädt.

Andreas Ebert