In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!
Keith Jarrett
La Fenice
ECM / Universal
4 Sterne
Es ist schon lange her, dass Keith Jarrett bei Solo-Konzerten vierzig Minuten oder länger die Funken sprühen lässt. Vor zwölf Jahren in Venedig muss er sehr inspiriert gewesen sein, denn der erste Teil seiner Solo-Improvisation in sieben Teilen läuft immerhin achtzehn Minuten ohne Unterbrechung und ist von bemerkenswerter Agilität. Eine der größten Überraschungen dieser Performance aus Manfred Eichers berühmt-berüchtigter Schublade, in der offenbar Aufnahmen in endloser Zahl lagern, ist sicherlich, dass Jarrett kurz vor Ende seines Auftritts „The Sun Whose Rays“ anklingen lässt. Wer hätte gedacht, dass der große Standards-Interpret des 20. und 21. Jahrhunderts sich auch für die Operetten von Gilbert & Sullivan erwärmen kann? Das Lied stammt aus The Mikado, die ihre Uraufführung 1885 erlebte, und gilt als ihr größtes Werk. Mit der in Japan spielenden Satire wollte Librettist William Gilbert das britische Establishment treffen, für den Komponisten Arthur Sullivan war sie vor allem eine Möglichkeit, orientalische Farben in die Musik einzubringen. Neben Jarrett hatte in den letzten Jahren vor allem die Trickfilmfigur Sideshow-Bob aus den Simpsons eine oft bespöttelte Vorliebe für die Werke der beiden Briten. Als Zugabe spielt Jarrett auf dieser Doppel-CD dann zwei Standards und seinen eigenen Oldie „Blossom“ aus dem berühmten Album Belonging mit Jan Garbarek.
Rolf Thomas
Marcin Wasilewski Trio
Live
ECM / Universal
4,5 Sterne
Als ihr Festivalauftritt beim Jazz Middelheim in Antwerpen am 12. August 2016 mitgeschnitten wurde, war das den Mitgliedern des Marcin Wasilewski Trios gar nicht bewusst. Dass die Musik auf dem umstandslos Live betitelten Tonträger jetzt so lebendig, locker und unangestrengt rüberkommt, könnte also auch daran liegen, dass die drei Musiker sich komplett der Interaktion widmen konnten, ohne auch nur einen Gedanken an eine Aufzeichnung zu verschwenden. Allerdings handelt es sich bei diesem Trio um eine Combo, die als Phänomen beschrieben werden muss: Seit 1993 musiziert der polnische Pianist Marcin Wasilewski mit seinen Landsleuten, dem Bassisten Sławomir Kurkiewicz und dem Schlagzeuger Michał Miśkiewicz in unveränderter Besetzung – derartige Kontinuität besitzt auch und gerade im Jazz Seltenheitswert. Entsprechend feinnervig ihr Interplay auf den sechs Stücken dieses Albums. Dennoch wirkt es nicht wie eine Jam-Session, klingt weder intim noch entspannt, sondern im Gegenteil packend und fesselnd, teilweise auch hochenergetisch. Gespannt verfolgt man ihre Interpretationen von Wasilewskis Stücken, die meisten davon aus seinem Album Spank of Life. Dazu kommt mit „Actual Proof“ eine Verbeugung vor Herbie Hancock, die belegt, wie viel Einfluss dessen Weg vom swingenden zum groovenden Jazz auch auf die europäische Entwicklung im Allgemeinen und dieses Trio im Besonderen genommen hat. Dementsprechend wird dann auch „Message in a Bottle” für diese international erfahrenen Großkatzen – unter anderem Tomasz Stańko und Manu Katché haben bereits auf ihre Sidemen-Qualitäten vertraut – zum Spiritual-Jazz-Kletterbaum. Formidabel.
Harry Schmidt
Vertigo Trombone Quartet
The Good Life
nWog / Edel:Kultur
5 Sterne
Sich darauf besinnen, was ein Instrument kann und was nicht, sollte eine Tugend für jeden Musiker sein. Nils Wogram, Begründer des Vertigo Trombone Quartet, redet etwas tiefstapelnd von den naturgegebenen Begrenzungen seines großen Blechblasinstruments mit dem ausladenden Zug vorne dran. Aber das zeugt hier vor allem von Understatement. Denn genug kreatives Selbstbewusstsein zeigt sich allein dadurch, dass sich Nils Wogram, Andreas Tschopp, Berhard Bamert und Jan Schreiner von keinen anderen Instrumenten reinreden lassen. Vor vier Jahren debütierten sie in dieser Konstellation – jetzt legen sie ein neues Werk nach, in dem sie konsequente Weiterentwicklung und kontinuierliche Reife demonstrieren, weil diese vier charaktervollen Musiker pluralistischer zu Werke gegangen sind: Jeder entfaltet sich in einem eigenen kompositorischen Part. Ensemblemitglied Bernhard Bamert hat gleich eine viersätzige Suite komponiert, die vor individueller Gewitztheit nur so sprüht. Sowieso hat jeder für sich und alle gemeinsam unglaublich viel zu sagen. Die zwölf Stücke bleiben leichtfüßig, ja in bestem Sinne musikantisch und legen offen, was eben alles auf der Posaune geht. All dies verströmt so viel ansteckenden Humor und manchmal auch eine Prise clownesker Melancholie – nicht nur, wenn Nils Wogram im Eröffnungsstück einen rauhen Oberton-Gesang drüberlegt, sondern auch, wenn ein wahrer Ozean aus spieltechnischen Geniestreichen, harmonischen Tricksereien, klangmalerischen Finessen, tonalen Gratwanderungen und elektrisierenden rhythmischen Schwingungen das Hörvergnügen nicht abreißen lässt.
Stefan Pieper