Louis Sclavis

Characters on a Wall

ECM / Universal

4,5 Sterne

Die größte Gefahr für herausragende Musiker besteht darin, Risikobereitschaft gegen prätentiös routinierte Mutwilligkeit einzutauschen, oder, schlimmer noch, beide miteinander zu verwechseln, ohne es selbst zu merken. Louis Sclavis entgeht ihr auf seinem aktuellen Longplayer für ECM, es ist sein 13. als Leader, mit der ihm eigenen Leichtigkeit. Dabei ist die Fallhöhe beträchtlich: Der französische Klarinettist hat Characters on a Wall als Konzeptalbum angelegt, das von der Kunst des Street-Art-Pioniers Ernest Pignon-Ernest inspiriert ist, mit dem ihn eine langjährige Zusammenarbeit verbindet. Bereits 2002 beschäftigte sich Sclavis auf Napoli‘s Walls mit dessen Interventionen im Stadtraum von Neapel. Statt allerdings wie vor 15 Jahren in Trio-Besetzung mit experimentell-elektronischem Ansatz, hat er die acht Stücke auf Characters on a Wall mit einem neu zusammengestellten Quartett aufgenommen, dem neben dem Pianisten Benjamin Moussay, mit dem Sclavis in den vergangenen beiden Dekaden häufig zusammengearbeitet hat, Sarah Murcia (b) und Christophe Lavergne (dr) angehören. Ein Hauch von „My Funny Valentine“ weht durch die melancholische Suite „L’Heure Pasolini“. Tänzerisch und orientalisch gibt sich „Darwich dans la ville“. Der lyrische, rhapsodische Auftakt und der virtuose, solistisch akzentuierte Ausklang markieren als Klammer, die das Album zusammenhält, zugleich die Pole, zwischen denen es sich bewegt. Zwei kurze Kollektivimprovisationen, das spannungsgeladene „Esquisse 1“ und das sublime „Esquisse 2“, erweitern die Kontrastebenen und rahmen als Highlight des Albums das Spiritual-Jazz-Update „Prison“ ein.

Harry Schmidt

Daniel Erdmann‘s Velvet Revolution

Won’t Put No Flag Out

BMC / Galileo

5 Sterne

Drei der spannendsten Musiker, die sich extrem viel zu sagen haben und sich auf dem vorliegenden Album in einen Spielrausch steigern, der hervorragend die starken Konzerteindrücke dieses Trios vor allem aus diesem Jahr widerspiegelt. Daniel Erdmann, ein Saxofonist mit Leidenschaft und hohen Idealen vereint sich hier mit Theo Ceccaldi, dem wohl zurzeit aufregendsten Violinisten am Jazzhimmel, und dem Briten Jim Hart zur „samtenen Revolution“ – so nennt Daniel Erdmann seine Band. Solche Emotionen katapultiert das Trio ganz ohne Worte und Umwege in die Köpfe ihrer Hörer. Daniel Erdmanns Tenorsaxofon haut seine spielerischen Manifeste raus, schwelgt in jubelnden Linien, erzählt Geschichten und streichelt die Seele, vereint in seinem Spiel Melancholie, Wärme, Aufruhr, manchmal alles gleichzeitig. In beredte Schwingung gerät es durch die repetitiven Muster und Impulse von Jim Harts Vibrafon. Das alles wird umso intensiver aufgeladen durch die aufregenden Akzente und Interventionen auf der Violine, die ihresgleichen suchen. Ceccaldi verkörpert jenen Musikertypus, bei dem das Instrument, das er bedient, fast sekundär ist – so übermächtig füllt Ceccaldis rohe Kreativität gepaart mit einem kompromisslosen darstellerischen Willen auf dem Instrument den Klangraum. Dieses Hörerlebnis ist allumfassend. Es türmt allerhand harmonische und solistische Abenteuer auf, die auf eine höhere Ebene entführen. Und damit taugt diese grandiose CD für sanfte Revolutionen in einer sich immer hysterischer gebärdenden Welt.

Stefan Pieper

Black String

Karma

ACT / Edel:Kultur

5 Sterne

Bereits mit ihrem Debüt-Album Mask Dance sorgte die koreanische Gruppe Black String für Begeisterung bei Fachwelt und Hörerschaft. Ungewohnt und spannend ist die Verbindung von Elementen traditioneller koreanischer Musik, Jazz, Blues, Rock und Elektronik, die das Ensemble um Geomungo-Spielerin Yoon Geong Heo praktiziert. Die Mischung, die dabei herauskommt, ist fesselnd und hat nicht selten den Hang, den Hörer in Trance zu versetzen. So beispielsweise das Eröffnungsstück der fast ausschließlich aus Eigenkompositionen bestehenden Platte, „Sureña“. Hier kommen die traditionellen Instrumente besonders gut zur Geltung, allerdings ist die Musik, die Black String darauf spielt, alles andere als traditionell. Aram Lee, der verschiedene asiatische Flöten spielt, fasziniert in „Hanging Gardens of Babylon“ mit wunderbaren Soli. Hier holen elektronische Beats die traditionellen Melodien in die Gegenwart. Die ungewöhnliche Musik des Ensembles sorgt auch bei Kollegen für Begeisterung, und so darf Black String bereits beim zweiten Album den Gitarristen Nguyên Lê als Gast begrüßen, der bekannt ist für seine musikalischen Brückenschläge. Koreanische Schamanengesänge von Min Wang Hwang werden in „Exhale-Puri“ mit sukzessiv ansteigenden Rock-Rhythmen kombiniert. Direkt im Anschluss versinkt der Hörer bei „Karma“ wieder in meditativen Klängen. Ein faszinierendes Album, das ausgesprochen gelungen Brücken schlägt – das soll Black String erst mal jemand nachmachen!

Verena Düren