Volker Kriegel

Irgendetwas hinter den Oberflächen


Tonbänder sind Botschaften aus vergangenen Zeiten. Man muss schon ein paar Jahre im Mikrokosmos der populären Musik hinter sich gebracht haben, um beim Anblick von 18-Zentimeter-Shamrock- oder BASF-Spulen das Herz höherschlagen zu spüren. Ach, und das gute alte Akai oder Revox …

Von Hans-Jürgen Linke

Leider reagieren Tonbänder empfindlich auf Feuchtigkeit und Temperaturschwankungen, so dass die Begegnung mit einem äußerlich unversehrten Tonbandarchiv immer ein äußerst spannender Moment ist: Wie viel von der Beschichtung und der magnetisch gespeicherten Information wird die Jahre überlebt haben? Im Falle von Volker Kriegels Tonbandarchiv seien, wie Schatzsucher und -finder Friedrich-Wilhelm Meyer sagt, 90 Prozent der Bänder in einem exzellenten Zustand gewesen, nach all den Jahren und in einer Zeit, wo eine Wiederentdeckung dieses großen Musikers und Exponenten des westeuropäischen Jazzrock gerade im Gange ist.

Volker Kriegel wuchs in einer Zeit auf, in der wahrscheinlich die meisten Musiker und Hörer aktueller populärer Musik am liebsten E-Gitarristen gewesen wären, um so richtig schnell, laut und verzerrt daherzubrettern. Kriegel lebte diesen Traum, allerdings auf eigene Weise, die die vulgäreren, krachledernen Anteile des Gitarrero-Unwesens hinter sich ließ. Er spielte elektrisch, aber meist auf einer halbakustischen Gitarre (und verschaffte nebenher der Marke Framus ein überraschendes Renommee, obwohl er eine Gibson ES-335 zum Lieblingsinstrument erklärte). Er spielte schnell, aber nicht metal-brachial oder arpeggienhaft schematisch, sondern fließend, perlend, unter Verwendung langbogiger Licks und überraschend feinen Bendings. Er arbeitete mit Effekt-Elektronik, aber immer ein wenig distanziert, gebändigt. Sein experimentelles Genie war getaucht in freundliche Ironie. Er konnte und beherrschte alles und spielte mit allem. Darauf basierte der typische kultivierte Volker-Kriegel-Jazzrock-Sound.

Übrigens war Kriegel, wie die aktuelle Wiederentdeckung, anderthalb Jahrzehnte nach seinem frühen Tod im Juni 2003, eindrucksvoll zeigt, eine beneidenswerte Mehrfach-Hochbegabung als Gitarrist, als Cartoonist und als Autor. Er schrieb Essays und ironische Märchen und las unterbelichteten Kritikern die Leviten. Als Cartoonist erzählte er elegant und liebevoll von kleinen schmutzigen Charakteren, Dingen und Begebenheiten. Als Musiker war er ein virtuoser Meister der facettenreichen Eleganz. Und immer gab es irgendetwas, was hinter den Oberflächen oder aus Nischen und Ritzen seiner Perfektion hervorlugte und die Sache noch interessanter machte.

Aufregend muss es gewesen sein, diesem schönen alten Klang in einem Konvolut von Tonbandspulen nachzuspüren, wie es Friedrich-Wilhelm Meyer, Alexander Pawlak und bald auch der Tontechniker Johannes Scheibenreif taten. Die Schatzsuche hat drei Alben zu Tage gefördert. Einmal waren Masterbänder der seinerzeit epochemachenden Veröffentlichung Mild Maniac des Quartetts Volker Kriegel & Spectrum dabei. Sodann die der über ein Jahrzehnt später bei mood records erschienenen LP Schöne Aussichten. Diese Stücke wurden jeweils sorgfältig remastert. Auf Mild Maniac gibt es Bonustracks, hinter denen erstaunliche Dinge verborgen sind. Zum Beispiel alternative Versionen des zweiten Stücks der LP („Prinz Eisenherz“) und des dritten („Schnellhörspiel“) in einer mehr als doppelt so langen Live-Version, aufgenommen bei den Idsteiner Schlosskonzerten 1977. Kriegel zeigt sich mehrfach auch als kunstreicher Akustik-Gitarrist, etwa mit einer ironiefreien Verbeugung vor dem damals sehr populären Fingerpicking-Helden Leo Kottke.

Das eigentlich Prunkstück des Konvoluts aber ist das in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt gebliebene Album Biton Grooves; genau genommen handelt es sich hier um eine Erstveröffentlichung. Die Musik wurde im Frankfurter Biton Studio aufgenommen, die Besetzungen sind nicht lückenlos verzeichnet. Die Absicht war, sagen wir: kommerziell. Das Studio produzierte auf eigene Kosten Aufnahmen und presste sie auf LPs, die dann Fernseh- und Radiostationen zur Verfügung gestellt wurden für Verwendung nach eigenem Ermessen. So kamen Stücke der Mild-Maniac-Besetzung in Nachtprogramme, in Nach- und Vorspann-Sequenzen. Die Musiker bekamen von der GEMA und Biton aus den Verlagsrechten ein bisschen Geld. Keine üppigen Summen vermutlich, aber offenbar war das ein tragfähiges Geschäftsmodell. Und eine geradezu utopische Gebrauchsmusik, von der man sich wünschte, sie hätte geschmacksbildend gewirkt. Das Album ist mit historischem Bewusstsein und technisch angemessen produziert, so dass sich heutige Hörer ein verlässliches Bild davon machen können, wie meilenweit diese Gebrauchsmusik entfernt ist von den elektronisch zusammengeschobenen Faulheiten, die vor und nach Radio- und Fernsehsendungen und in den Fahrstühlen der Gegenwart herumjingeln.

Aktuelle CDs:

Volker Kriegel: Biton Grooves

Volker Kriegel & Spectrum: Mild Maniac

Volker Kriegel: Schöne Aussichten

(Alle: MIG Music / Indigo)