Youn Sun Nah

Das Licht am Ende des Tunnels

Youn Sun Nah veröffentlicht ihr erstes Album mit ausschließlich eigenen Songs – Waking World.

Von Doris Schumacher

I’m like a bird singing love songs without sound, but I don’t want someone to hear my cry” – gleich im ersten Song ihres neuen Albums findet Youn Sun Nah Worte für etwas, das viele in den letzten zwei Jahren gedacht und gefühlt haben müssen. Es schien, als wären alle Singvögel verstummt. Nach und nach lösen sie sich aus der Erstarrung. Youn Sun Nah gilt als eine der profiliertesten Sängerinnen im aktuellen Jazz. Dass sie nach zahlreichen Alben mit ebenso empathischen wie intelligenten Interpretationen nun ein Album mit selbst geschriebenen Songs veröffentlicht, ist ein Zeichen der Zeit.

„Ich steckte fest“, erzählt sie. „Tatsächlich hatte ich keine Wahl.“ Von Aufnahmen in den USA war sie im März 2020 gerade noch vor dem Lockdown nach Korea geflogen. Aus einem kurzen Besuch bei ihren Eltern wurde mehr als ein Jahr. „Mein Leben ist in Frankreich. Ich konnte nicht nach Hause und war doch zu Hause. Es war schrecklich. Ich war deprimiert, ging nicht mehr raus, arbeitete nicht mehr, ich machte nichts bis Februar 2021.“

Dass sie aus dieser Situation produktiv herauskam, gleicht einer Wiedergeburt. Schlicht und einfach der Mangel an Möglichkeiten, mit anderen Musikern zu arbeiten, trieb sie an, die Songs zu komponieren. „Ich arbeitete mit einer Software am Computer, das ist ganz leicht“, erzählt sie. „Jeder kann damit komponieren.“ Zuerst habe sie die Harmonien gesucht, dann die Melodien. Erst als die Arrangements fix und fertig waren, habe sie Texte dazu geschrieben.

Der Zauber des Albums liegt in der Direktheit, mit der Youn Sun Nah an die Sache herangeht. Da gibt es nichts Gekünsteltes, nichts Verspieltes. Binnen Sekunden fesselt ihre Musik – und der Bann hält bis zum letzten Stück. Manches hat man vielleicht schon gehört, vieles entspringt ganz klar dem musikalischen Schatz, mit dem sich Youn Sun Nah auf ihren bisherigen Alben beschäftigte. Es war wohl nicht ihr Anliegen, das Rad neu zu erfinden. Dennoch ist etwas so Eigenes, Unverwechselbares entstanden, dass das Album als Meilenstein in ihrer Karriere gelten kann. Sie hat ein großes Ganzes erschaffen, nicht zuletzt durch ihre Stimme, die sie gewohnt agil einsetzt, ohne ihre Möglichkeiten voll auszuspielen. Die Instrumentalpassagen und Arrangements verorten das Album irgendwo zwischen Pop und Jazz. Da gibt es jazzige Bläserpassagen, ätherische Sounds, Gitarren-Solos, Strophen und Refrains. Plötzlich erklingt eine orientalische Melodie („Heart of a Woman“), hört sich nach Oud an. Ein Blick ins Booklet zeigt: Es ist ein Banjo.

Darauf angesprochen, lacht Youn Sun Nah und erzählt: „Da ich ja Jazz mache, improvisieren die Musiker normalerweise bei den Aufnahmen. Das hatte ich auch bei diesem Album erwartet. Als wir ins Studio kamen, sagten sie: Wir wollen genau das machen, was du geschrieben hast. Ich sagte: Nein, macht bitte etwas anderes. Aber sie wollten genau den Sound. Ich hatte den Song mit einem Oud-Sound komponiert, am Computer. Wir hatten keine Oud, aber wir fanden ein Banjo im Studio. Er [der Gitarrist Thomas Naïm] sagte: ,Vielleicht schaffe ich es, das Banjo so zu spielen, dass es klingt wie Oud.‘ Und dann machte er es einfach.“

Youn Sun Nahs Songs sind wie Bilder aus einem Film. Kurze Episoden, Gedanken, Szenen, Flashbacks. Es ist ein Album, auf dem es um unglückliche Liebe, Einsamkeit, Depression, Dunkelheit geht. Über „Heart of a Woman“ sagt sie: „Ich war fast fertig mit dem Song, und plötzlich erinnerte ich mich an einen Videoclip von Amy Winehouse, ‚Back to Black‘. Ich erinnerte mich daran, wie sie in Trauerkleidung Blumen auf das Grab ihres Liebsten wirft. Und außerdem erinnerte ich mich an meine eigenen traurigen Liebesgeschichten.“ Oder „Don’t Get Me Wrong”, eine kraftvolle Anklage, die Youn Sun Nah an all jene richtet, die Falschheit und Missgunst in der Welt verbreiten: „Immer wenn ich die Nachrichten sehe, fühle ich mich so traurig. Es gibt zu viele Kämpfe, so viel Hass, zu viele Lügen. Jeder könnte auf die Sprache des Herzens hören, die Sprache der Liebe und der Wahrheit. Wir sind alle durch Liebe entstanden. Solidarität ist der einzige Weg, wie wir auf diesem Planeten überleben.“

Aber da sind auch Lichtblicke, wie in „It’s OK“. Als habe sie nach all dem Dunkel ihren Frieden mit der Welt gemacht. „Let’s put off our worries till tonight. Let’s just … let it flow. Youn Sun Nah lacht. „Ja, aber nach ‚It’s OK‘ kommt ‚Endless Déjà-vu‘. Es ist so, als wäre alles gut, aber gleich darauf kommt das Ende der Welt. Es ist wie aufzuwachen und die Sonne scheint – und drei Stunden später regnet es. Es schneit – in deinem Herzen. Alles hat immer zwei Seiten. Jeder Tag, jede Stunde. Ein ständiges Auf und Ab.“

Die gute Nachricht: Der Vogel, der nicht mehr singen wollte, damit niemand die Verzweiflung in seiner Stimme hört, lässt die Welt letztlich doch teilhaben an seinem Innenleben – und rettet damit nicht nur sich selbst, sondern alle, die ihm zuhören.

Aktuelles Album:

You Sun Nah: Waking World (Warner Music)