© Tamara Janes

Andreas Schaerer

Hymne für ein Niemandsland

Eigentlich möchte der Schweizer Sänger Andreas Schaerer nicht alleiniger Namensgeber des Albums Anthem for No Man’s Land sein, er sieht seine Band als absolut gleichberechtigtes Kollektiv. Genauso gemeinschaftlich wurde das spannende Werk erarbeitet – Gebete und Gesang in Fantasiesprachen eingeschlossen.

Von Angela Ballhorn

© Tamara Janes

Ein zentrales Thema des Albums sind Utopien. Unsere Musik soll Räume kreieren, in denen man sich Auszeiten nehmen kann. Konzerte sind kleine Inseln, die wir brauchen, um Kraft und Zuversicht zu tanken, um nicht zu kapitulieren. Kunst und Musik sind aktuell so sehr in die Verantwortung genommen wie noch nie. Die Musik ist von existenzieller Wichtigkeit in diesen Zeiten!“ Deshalb gibt es auch keine reale Sprache auf Anthem for No Man’s Land. Gerade nach Schaerers Evolution-Album mit englischen Texten eine überraschende Wendung. „Mit Fantasiesprachen arbeite ich schon lange, habe sie aber noch nie ausnotiert. Auf unserem aktuellen Album habe ich die Texte nun ausgeschrieben. Sie dienen als Brücke, um die Musik zu vermitteln. Gleichzeitig möchten wir eine Art utopischen Ort kreieren, dessen Sprache sich ganz klar nicht mit irgendwelchen Nationen verbindet.“

Andreas Schaerer und Lucas Niggli (dr) sind Schweizer, auch wenn Niggli in Kamerun aufgewachsen ist. Kalle Kalima (g) ist Finne, Luciano Biondini (acc) Italiener. „Wir verstehen uns als internationale Band mit einem universellen Sound. Wir stehen dafür ein, dass es ein Mehrwert ist, wenn sich Leute über Grenzen hinweg verbinden. Dieses Ideal ist uns heilig. Das Publikum wollen wir mit der direkten Emotionalität und Energie unserer Musik ermutigen. In letzter Konsequenz wäre eine reale Sprache dabei nur einengend.“

Die vier Individuen machen das Quartett so besonders. Alle sind stark im Jazz verwurzelt, haben aber auch einen spielerischen und unverkrampften Zugang zu ihrer Herkunft. Bei Lucas Niggli sind es afrikanische Einflüsse, bei Luciano Biondini blitzt italienische Folklore auf, bei Andreas Schaerer – seine Großmutter war Jodlerin – vernimmt man alpine Einflüsse. Bei Kalle Kalima hört man seine Sozialisation mit psychedelischen Rockbands. „Wir sind ein Hybrid zwischen Jazz und Herkunft. Seit unserer letzten Platte von 2018 haben wir weit über 100 Konzerte gespielt, unser Verständnis ist inzwischen fast blind. Es ist ein unglaublich virtuoses Interplay entstanden. Gleichzeitig haben wir viel erlebt, sind zusammen gereist, haben philosophiert, gestritten und uns wieder versöhnt. Wir sind Brüder und lieben uns.“

Konkret an diesem Album gearbeitet wurde in einer einwöchigen Residency in Bern. Dort konnte das Quartett jeden Tag stundenlang proben und abends Atelier-Konzerte spielen. „Eglised by the Moon“ nimmt auf dem Album einen besonderen Platz ein: „Wenn wir unsere Musik entwickeln, geht die Fantasie manchmal mit uns durch. Startpunkt bei diesem Stück war, dass das Rituelle in unserer westlichen Gesellschaft fehlt. Religionen sind auf dem Rückzug. Doch auch der moderne Mensch hat dieses archaische Bedürfnis nach Ritualen und Mystik. Kalle hat das ursprüngliche Stück geschrieben. Aber was singt man dazu? Es sollte ein Stück über eine absurde rituelle Gemeinschaft werden, die auf dem Mond lebt und dort einen abgefahrenen Tempel errichtet. Das Wort ,Eglised‘ ist eine Wortschöpfung von uns. Es ist zugleich eine Reminiszenz an eine Textzeile auf Pink Floyds Dark Side of the Moon. Hier trifft ein Wortspiel auf ein absurd-dadaistisches Bild, das durchaus eine gesellschaftliche Thematik aufgreift. Bei der Residency habe ich live in dieser komischen Sprache gepredigt, eine Art rückwärts gesprochenes Schweizerdeutsch. Ich finde einige Politiker*innen klingen aktuell nicht minder absurd, wenn sie ihre Ideen predigen.“

Utopie aus der Vergangenheit ist das Stück „Bad Eye“, das sich auf den Ort Bad Ey in der Schweiz bezieht: „Es ist eine Erinnerung an die Täler und die Weiten und die Autonomie, die ich als Kind hatte. Ich bin im Emmental aufgewachsen. Als Schulkind hieß das: eine Stunde Schulweg durch den Wald, allein. Ein wunderbares Freiheitsgefühl.“

Musikalisch verschmelzen vier Instrumente und vier starke Persönlichkeiten zu einem einzigen Wesen, etwas, das sich Andreas Schaerer auch außerhalb musikalischer Utopien wünscht: „Ich plädiere dafür, Grenzen aufzulösen, Grenzen zwischen Musiker*innen, Journalist*innen, Kurator*innen, dem Publikum und der Band. Wir sind eine Gemeinschaft und müssen unsere Kräfte bündeln. Ich möchte nicht an Nationen gebunden sein. Ich beobachte bei Konzerten und ganz besonders bei dieser Band immer wieder von Neuem, wie die Musik es schafft, Menschen zu verbinden. Ich finde, das ist in unserer Zeit wichtiger denn je. Das ist unser übergeordnetes Ziel – und die Musik soll nur ein Vehikel dafür sein.“

Aktuelles Album:

Andreas Schaerer, Luciano Biondini, Kalle Kalima, Lucas Niggli: Anthem for No Man’s Land (ACT / Edel:Kultur)