Franco Ambrosetti

JAZZTHETIK 09/10-2024

Gelassene Weisheit

Der Bandleader, sagte Franco Ambrosetti einmal, sei so etwas wie der Direktor einer Art Fabrik. Die Fabrik stellt er sich allerdings nicht als Maschinenhalle mit Fließband vor, eher wie eine Manufaktur aus alten Zeiten. Da gibt es jemanden, der weiß und sagt, wo es langgeht, da herrscht Teamgeist und man fabriziert in gemeinsamer handwerklicher Anstrengung Musik.

Von Hans-Jürgen Linke

© Jim Anderson

Man muss diese Analogiebildung nicht allzu weit ins Detail verfolgen. Sie entspricht eher Ambrosettis eigener Familien- und Lebenserfahrung als einer allgemeinen Aussage über Strukturen von Jazz. Vater Flavio war Maschinenfabrikant und Saxofonist – unter anderem bei Hazy Osterwald und George Gruntz. Sohn Franco spielte in seiner Band und erbte Fabrik und musikalisches Talent, entwickelte sich zu einem der großen Trompeter und Flügelhornisten des modernen Jazz und führte das ererbte Doppelleben, bis er im Jahr 2000 die Firma Ambrosetti Technologies in Lugano verkaufte, um sich nur noch der Musik zu widmen.

Ambrosetti war immer ein Meister des klassisch vollen und gesättigten Trompeten- und Flügelhorn-Tons. Er spielte aber nie den Athleten der messingstrahlenden High Note, sondern wählte den Weg der Zurückhaltung und des Weglassens von Überflüssigem. Neben seiner profilierten Arbeit in kleineren Formationen hat er sich immer auch als Komponist des Third Stream betätigt. Vor drei Jahren, zu seinem achtzigsten Geburtstag, hat er sich selbst mit dem Album Nora ein musikalisches Geschenk gemacht. Er hat einige alte Freund*innen versammelt und mit ihnen begonnen, das Projekt eines sanftmütigen Alterswerks zu realisieren.

Und hier ist nun der zweite und noch konsequentere Teil davon. Das Wort „Alterswerk“ meint dabei nichts Ermüdetes oder gar Überholtes. Es geht bei dieser Musik eher um zwei zentrale Tugenden: Erstens die Fähigkeit, nicht zu viel zu tun, nicht zu laut zu sein und auch nicht die Geigen zu sehr in den Vordergrund zu lassen, sondern das Wesentliche prägnant und in zielsicherer Mühelosigkeit zu artikulieren. Und zweitens: den Abgründen und Schrecken, an denen die Welt nicht ärmer werden will, mit einer trotzigen Milde und vielleicht einem Hauch von gelassener Weisheit und nostalgischer Zärtlichkeit zu begegnen.

Das Projekt versammelt ein 29-köpfiges Kammerorchester, das – im Unterschied zum Nora-Projekt – auch Bläser umfasst. So entsteht nicht nur ein Wärmebad aus Streichern, sondern ein pastellfarbener Orchesterklang, in dessen Kontext die Jazz-Formation sich unaufdringlich, aber deutlich artikuliert.

Für den Jazz-Kern des Geschäfts hat Ambrosetti Weggefährt*innen versammelt, darunter auch Altersgenoss*innen. Da ist als Solistin die Geigerin Sara Caswell mit dem weich und elegant schwingenden Ton; Bassist Scott Colley, der unter anderem mit John Scofield und Herbie Hancock gearbeitet hat und schon lange zum engeren Ambrosetti-Kreis gehört; Peter Erskine, seit seiner Arbeit bei Weather Report einer der international bedeutendsten Jazz-Schlagzeuger; schließlich gehört auch der große John Scofield zur Band, der, wie Ambrosetti, die Kunst der geschichtsbewusst-eleganten Lakonie auf eine einsame Spitze getrieben hat. Pianist, Arrangeur und Dirigent ist Alan Broadbent, der unter anderem viele Jahre mit Charlie Haden gearbeitet hat.

Von Haden stammt auch eine der Kompositionen, die Broadbent für das Album arrangiert hat: „Nightfall“. Sie erzählt keine düstere Geschichte, eher fällt ein freundliches, nicht allzu grelles orchestrales Licht auf die Welt. Das Sextett arbeitet im Konsens an der gleichen Erzählung, die ein bisschen feierlich und mit einem Hauch von Nostalgie inszeniert ist.

Das ist auch eine übergreifende Beschreibung des musikalischen Konzepts, von dem das Album geprägt ist. Dazu gehört, dass Ambrosetti der Crooner ist, der mit souveräner Stimme am Flügelhorn die Ankerplätze weist. Niemand muss hier noch etwas Besonderes zeigen, jede*r beschränkt sich aufs Wesentliche – und so wird das ganze Album etwas sehr Besonderes. Es besteht aus acht Kompositionen, die sich auf einen durchgängigen variationsreichen Balladenton geeinigt haben. Die Stücke folgen keiner konzertüblichen Dramaturgie. Sie ordnen sich eher zu einer epischen, nach-barocken Suite von gemessenen Tänzen, in denen eher die Charakteristiken der Passacaglia oder des Passepied vorherrschen. Schrilles, Ekstatisches wird durchgängig vermieden. Die Hälfte der Stücke stammt dabei von Ambrosetti, die vier anderen finden sich auf der ewigen Liste großer Jazz-Kompositionen – außer Hadens „Nightfall“ auch Alan Broadbents Stück mit dem hier geradezu programmatischen Titel „Old Friends“ neben Mal Waldrons „Soul Eyes“ und Russel Robinsons „Portrait of Jennie“.

Alle acht Kompositionen sind von Alan Broadbent klangschön arrangiert. Alle erzählen eine eigene Geschichte, die zugleich Variation und Fortsetzung einer anderen, älteren Geschichte ist. Einer Geschichte, die der Gegenwart nicht mit Gleichgültigkeit begegnet, aber sich auch nicht mehr treiben oder gar einschüchtern lässt. Es sind Geschichten aus der und über die inzwischen lange und weltweite Tradition des Jazz. Sie werden vielstimmig erzählt, ohne dass jemand dabei in der Asche herumstochert. Wenn man ein halbes Leben lang unter anderem Maschinenfabrikant gewesen ist, dann ist es bestimmt gut für die Seele, die andere Hälfte dieser Musik zu widmen.

Aktuelles Album:

Franco Ambrosetti: Sweet Caress (enja / Yellowbird / Edel:Kultur)