HÖRBUCHT
ANDERES
Anderes soll auch sehr schön sein. Ein Magazin für Jazz und Anderes blickt zwangsläufig über den Tellerrand einer Welt (Scheibe), die immer komplexer erscheint, immer komplizierter. Fake News, KI und MI (Musikalische Intelligenz) können längst die Wirklichkeit ersetzen, alternativlos. Selbst Zitaten und Steuerbescheiden kann man nicht mehr trauen – nicht nur eine Laufbildkontrolle kann nicht nur nicht schaden, sondern auch die Lösung sein. Endlosrillen. Der Rest kann auf die (allwissende) Müllhalde. Dauerschleife. Lektor‘s Delight.
In der Hörbucht…
Björn Simon
August Zirner & Sven Faller
Mingus
GLM Music
3 Sterne
„Mit anderen Worten: Ich bin drei.“ So beginnt der Bassist, Komponist und Bandleader Charles Mingus in der deutschen Übersetzung von Günter Pfeiffer seine Autobiografie, die im englischen Original „Beneath the Underdog“ heißt und gleich zu Beginn die Frage stellt, welchen Mingus die Welt sehen soll: den Mann (Mingus eins), der beobachtet und wartet, denjenigen (Mingus zwei), der angreift, weil er Angst hat, oder denjenigen (Mingus drei), der vertrauen und lieben will, sich aber jedes Mal zurückzieht, wenn er verraten wird. Tatsächlich gibt es noch eine Reihe weiterer „Mingusse“, was dazu führt, dass man ihm in seinen vielfältigen Persönlichkeiten kaum gerecht werden kann. Vor diesem Hintergrund haben sich August Zirner (Flöte und Erzähler) und Sven Faller (Bass und Erzähler) auf ihrem Mingus-Album, das eine Mischung aus Hörbild, Lesung und Musik ist, für eine Form entschieden, die man als „versuchte Annäherung“ beschreiben könnte.
Ob dieser Versuch gelungen ist oder nicht, wird wohl jeder für sich selbst beantworten müssen. Schwierig scheint die Beantwortung zum einen, weil einem die Musik von Mingus besonders am Herzen liegt. Zum anderen, weil Sven Faller ein exzellenter Bassist ist, den man vermutlich nachts um halb drei aus dem Bett holen, ihm einem Bass geben und sich gleich darauf an einer noch schlaftrunkenen, gleichwohl grandiosen Version von „Goodbye Porkpie Hat“ erfreuen könnte. Und zuletzt, weil man auch August Zirner, den man als Grimme-Preisträger ebenfalls sehr schätzt, nicht zu nahetreten möchte, wenn man annimmt, dass dieser vielleicht doch ein besserer Schauspieler ist als Flötist. Tatsächlich ist aber genau das, die Kombination von Kontrabass und Flöte, bei dieser Einspielung ein Problem – nicht grundsätzlicher Art, sondern insofern, als hier nicht auf Augenhöhe musiziert zu werden scheint. Ganz sicher gilt das für die Improvisation: Was bei Faller eine innere Selbstverständlichkeit hat, die sich nicht weiter erklären muss, wirkt bei Zirner phasenweise brav, beflissen. Jedenfalls nicht: frei. Und das wäre dann doch das Beste, was man von einer so faszinierenden Musikerpersönlichkeit wie Charles Mingus lernen kann: vielleicht nirgends so sehr wie in seiner Musik frei und bei sich selbst zu sein.
Bezeichnenderweise sind die besten Textpassagen dieser Veröffentlichung dann auch nicht diejenigen, die Mingus’ Leben nacherzählen, sondern diejenigen, in denen eigene Erfahrungen im Land der doch nicht so unbegrenzten Möglichkeiten einfließen. Besonders berührend etwa Fallers Beschreibung seiner Begegnung mit einer Buchenwald-Überlebenden vor Jackson Pollocks Gemälde „Autumn Rhythm (Number 30)“ im New Yorker Museum of Modern Art. Auch Zirner, der als Kind österreichischer Emigranten 1956 in den USA geboren wurde und erst seit 1973 in Europa lebt, war und ist das Mingus-Album sicher ein Herzensanliegen. Doch nicht immer wird klar, was fiktiv, autofiktiv oder wirklich (und wenn ja von wem) erlebt ist. Manch Schönheitsfehler (Mingus ist zwar in Watts, einem Vorort von Los Angeles, aufgewachsen, geboren wurde er aber in der Grenzstadt Nogales, Arizona), manch Ungenauigkeit (die Verwechslung von „es“ und „er“ im Gespräch mit dem Psychiater, mit dem Mingus’ Autobiografie beginnt) hätten vermieden werden können. Bleibt als größtes Verdienst dieser Veröffentlichung, dass sie alles in allem doch sehr neugierig macht auf das Werk von Mingus selbst. Aber was die eingangs aufgeworfene Frage angeht – so wäre jedenfalls dem Autor dieser Zeilen Fallers facettenreiches Bassspiel allein schon Annäherung (und Würdigung) genug gewesen.
Robert Fischer