HÖRBUCHT
VORHANG AUF!
Nein, hier betritt kein neuer Thomas Mann die Bühne. Seine Sprachgewalt ist anders, nicht so seriös, nicht so straight. Unterhaltsamer. Eher an die guten Dialoge bei Quentin Tarantino erinnernd, Quarter Pounder with Cheese und so. Volksnah und bodenständig banal, sometimes. Menschlich. Tiefgründig auf den zweiten Versuch, Wiedervorlage. Pulp Fiction. Heinz Strunk verarbeitet viel Eigenes, auf seine unvergleichliche Weise. Seinen Zauberberg dampft er live auf unterhaltsame 90 Minuten + x ein, geschickt moderierend, die Übergänge neu kreierend. Spontanwitze. Dazu am Ende die unvermeidliche Querflöte… Großes Kino!
In der Hörbucht…
Björn Simon
Heinz Strunk
Zauberberg 2
Tacheles! / Roof Music
4,5 Sterne
Ist das nun dreiste Selbstüberschätzung oder eine grandiose Idee? Respektlosigkeit oder Hommage? 100 Jahre nach dem Erscheinen von Thomas Manns Roman Der Zauberberg hat sich der Hamburger Autor, Humorist und Musiker Heinz Strunk einfach mal darangesetzt, eine neue Version zu schreiben, die er in bester Blockbuster-Tradition schlicht Zauberberg 2 nennt. Wie im Originalroman spielt die Handlung in einem Sanatorium, in dem hier allerdings nicht Lungenkranke, sondern Menschen mit psychischen Problemen behandelt werden, und das nicht in Davos, sondern in einer mecklenburgischen Sumpflandschaft nahe der polnischen Grenze.
Jonas Heidbrink, die Hauptfigur, hat ein erfolgreiches Start-up zu Geld gemacht und mit nicht mal 30 bereits finanziell ausgesorgt. Doch statt ein sorgenfreies Leben genießen zu können, gerät er in eine Krise aus Depression und Angststörung. „Kein Talent zum Glück“ – so seine ernüchternde Selbstdiagnose. Aus einer Kombination aus Genesungshoffnung und Langeweile begibt er sich leicht widerwillig in besagtes Sanatorium – ein Setting wie geschaffen für Strunks Stärken als Autor: eine Ansammlung deformierter Figuren, die er durch Entlassungen und Neueinweisungen beliebig austauschen und erweitern kann. Die Schilderung der Therapiesitzungen gibt ihm die Gelegenheit, ausgiebig deprimierende Lebensläufe zu beschreiben, aber auch humoristische Akzente zu setzen, etwa in der grandiosen Darstellung einer Musiktherapiestunde. Die kreativen Schreibversuche der Patienten ermöglichen es ihm, kürzere Formen als Text im Text einzubauen, darunter eine absurde Kurzgeschichte über einen Mann, der nach und nach in einer Bettritze verschwindet.
Der Handlungsarmut des tristen Klinikalltags stellt Strunk mit feiner Beobachtungsgabe die unablässigen Selbstreflexionen Heidbrinks entgegen, dazu gelingen ihm treffende atmosphärische Beschreibungen: „Graues Licht schmiert über den Himmel wie Salbe durch einen Verband.“ Schnell hat Heidbrink festgestellt: „Echte Patienten sind viel deprimierender als Film- oder TV-Patienten.“ Sein Verhältnis zu ihnen ist geprägt von seiner Unfähigkeit dazuzugehören, von einer Mischung aus dem gnadenlosen Sezieren ihrer Marotten und Gebrechen und seiner Verunsicherung, die ihn zum Einzelgänger macht: „Wenn er eingeladen würde, sich irgendwo dazuzusetzen, könnte er wenigstens ablehnen.“
Doch nachdem er sich zunächst zwingen muss, zumindest einen Monat durchzuhalten, um zu sehen, ob sich hinter den scheinbar sinnlosen Therapien vielleicht doch ein Sinn verbirgt, beginnt er mehr und mehr, sich in den geordneten Abläufen voller Wiederholungen einzurichten. Nach und nach gibt er die Hoffnung auf eine Verbesserung seines Zustands auf: „Seine Persönlichkeit, so viel ist mittlerweile klar, ist ein zugefrorenes Gewässer. Da gibt es wenig zu ergründen und noch weniger für Psychokauderwelsch und Gesprächsgruppengeschwätz zu erforschen. Therapie ist nichts anderes als die Korrektur von Erinnerungen. Interessante These, von ihm selbst aufgestellt.“ Dennoch will und kann er auf die Stabilität des Korsetts aus Behandlungen, Kursen und festen Essenszeiten nicht mehr verzichten. Der näher rückende Entlassungstermin führt zu einer Verschlechterung seines Zustands und der Entscheidung, zu bleiben, ganz wie bei Hans Castorp, der Hauptfigur bei Thomas Mann.
Strunk bedient sich ausgiebig an Motiven und Personal aus dem Zauberberg und übersetzt beides in die Gegenwart. Wo Mann ausführliche weltanschaulische Diskurse unter den Patienten in seinen Roman einflicht, führt Strunk seinen Protagonisten über die Sitzordnung beim Essen mit einem Tischnachbarn zusammen, der wenig mehr als schlaumeiernde, aber unzusammenhängende Sinnsprüche absondert. Auch der Alkoholiker Klaus, der in der Klinik seinem Tod entgegendämmert, hat ihm wenig Tröstliches zu sagen: „Wenn du am Ende deines Lebens noch einen Freund übrighast, bist du wahrscheinlich ’n Arschkriecher.“ Eine bemerkenswerte Besonderheit ist ein Kapitel gegen Ende, in dem Strunk nach Art eines Remixes über 150 Zauberberg-Zitate neu montiert und in seinen Text einbaut, was die Handlung zwar nicht bedeutend voranbringt, aber als netter Kunstgriff funktioniert.
In der trotz sieben Stunden Laufzeit extrem kurzweiligen Hörbuchfassung eröffnet Strunks charakteristische Vortragsart einschließlich verhaspelter und vernuschelter Textstellen häufig zusätzliche Bedeutungsebenen und veranschaulicht insbesondere Heidbrinks Sichtweisen auf seine Umgebung, mal naiv-staunend, dann wieder angewidert-distanziert, doch durchgehend von tiefer Traurigkeit durchdrungen: „Wäre die Welt ein guter Ort, dann würde doch selbst er ab und an ein bisschen Freude empfinden. Aber die Welt ist kein guter Ort.“ Diese Hoffnungslosigkeit so unterhaltsam darzustellen wie Heinz Strunk – eine bewundernswerte Leistung.
Guido Diesing