© Edward Quinn

Miles Davis

French Connection

Miles Davis ist und bleibt ein Mysterium. Wir meinen viel und immer mehr über den Mann mit dem Horn zu wissen, doch je mehr sich mittels posthumer Veröffentlichungen aus seinem Leben offenbart, desto größer scheint sein Geheimnis zu werden.

Von Wolf Kampmann

Miles Davis

Die 8-LP-Box Miles in France 1963 & 1964 schließt nun eine Lücke, denn wir erleben das zweite Miles Davis Quintet in Transformation. Obwohl einige der Aufnahmen mit George Coleman in Antibes bereits auf Miles Davis in Europe veröffentlicht wurden, besteht der Wert dieser Edition darin, dass wir zwei Bands in einer erleben. Mit seinem ersten Quintett mit John Coltrane, Red Garland, Paul Chambers und Philly Joe Jones hatte sich Miles Davis in die vorderste Riege des amerikanischen Jazz gespielt. Mit seinem modalen Album Kind of Blue veränderte er den Jazz als solchen nachhaltig und machte ihn fit für die 1960er Jahre, in denen die Beatles, die Rolling Stones und Jimi Hendrix Gamechanger werden sollten.

Als Miles sein zweites Quintett formierte, spürte er bereits, dass Veränderung in der Luft lag. So erinnert er sich in seiner Autobiografie: „Ich hatte jetzt eine ganz neue Band. Eigentlich wollte ich von vorne anfangen und holte mir deshalb den Saxofonisten George Coleman, den mir Coltrane empfohlen hatte.“ Den Rest der Musiker hatte er schnell zusammen. „Ron musste nicht vorspielen, denn ich wusste, was er kann, aber er probte mit uns. Und dann hatte ich diesen kleinen 17-jährigen Schlagzeuger gehört, der mit Jackie McLean arbeitete. Er hieß Tony Williams – und es zog mir regelrecht die Schuhe aus, so irre war er. Ich wollte, dass er sofort mit mir nach Kalifornien kommt, aber er musste noch seine Verpflichtungen bei Jackie McLean erfüllen. […] Trompeter brauchen große Schlagzeuger, und ich konnte sofort hören, dass Tony einer der größten Schlagzeuger würde, der je hinter einem Set gesessen hatte.“

Mit Herbie Hancock war Miles durch Donald Byrd in Berührung gekommen. „Ich bat ihn, etwas auf meinem Klavier zu spielen, und sah sofort, dass er wirklich was konnte. Ich lud Tony Williams und Ron Carter dazu ein, weil ich sehen wollte, wie Herbie dazu passte. Sie kamen vorbei und spielten einige Zeit täglich zusammen. Ich hörte es mir auf der Gegensprechanlage an, die überall in meinem Haus installiert war. Mann, sie klangen einfach zu gut. […] Ich wusste sofort, das wird ’ne Höllenband. Zum ersten Mal seit Langem spürte ich wieder diese innere Erregung, denn wenn sie schon nach ein paar Tagen so gut klangen – wie würden sie erst in ein paar Monaten spielen? Mann, ich konnte den Kram schon richtig knallen hören.“

Hingabe

Diese Erregung ist auf den ersten drei Doppelalben von Miles in France 1963 & 1964 mit Händen zu greifen. Die Aufnahmen stammen vom 26. bis 28. Juli 1963, vom Antibes Festival in Juan-les-Pins. Die Band spielt mit absoluter Hingabe. Vor allem Hancock und Williams versuchen immer wieder, aus dem gegebenen Rahmen auszubrechen. Ron Carter hält den Laden zusammen. George Coleman zeigt sich als technisch äußerst versierter Saxofonist, dessen Läufe atemberaubend erscheinen. „Ich hatte mit anderen Gruppen gespielt“, wird Coleman von Marcus J. Moore in den Liner Notes zitiert. „Ich spielte mit Max Roach, ich spielte mit Lee Morgan – aber mit Miles driftete ich in eine andere Ausdruckszone. Selbstredend hatte ich eine großartige Unterstützergruppe mit Ron Carter, Tony Williams und Herbie. Miles war da, um mich zu inspirieren, was er auch tat. Jede einzelne Nacht spielte er andere Sachen. Und auch er betrat ein anderes Terrain, denn vorher hatte er straighten Bebop gespielt. Aber als ich in die Gruppe eintrat, begann er sich auszustrecken. Das war auch für Miles eine Transformation.“

Doch die Formierung der Band war noch nicht abgeschlossen. Mental schien Coleman noch ein Stück weit in den 1950er Jahren zu stecken. Im unmittelbaren Vergleich zu John Coltrane, aber auch zu seinen Mitspielern, fehlte es ihm an Zug, Leichtigkeit und spontanem Erfindungsreichtum. Es gelang ihm nicht, sich spielerisch zu emanzipieren, er blieb der Coltrane-Ersatz. Es ist deshalb wenig überraschend, dass diese Allianz nicht lange hielt. Williams geriet in Konflikt mit Coleman, weil der Drummer sich jemanden wünschte, der sich mehr an Ornette Coleman und dem sogenannten New Thing orientierte. „Außerdem“, so Miles, „war George unzufrieden, weil die Jungs oft als Quartett spielen mussten, da ich wegen meiner Schmerzen in der Hüfte nicht zu den Jobs erscheinen konnte. Er beschwerte sich oft darüber, wie frei Herbie, Tony und Ron loslegten, wenn ich nicht dabei war. Sobald ich nicht erschien, wollten sie nicht traditionell spielen, und da stand George im Weg.“

Freiheit

Gerüchten zufolge sollte auf George Coleman Eric Dolphy folgen, aber Miles mochte dessen Stil nicht und fasste Wayne Shorter ins Auge. Der war jedoch an Art Blakey gebunden, der ihm zudem die Funktion des Musical Directors bei den Jazz Messengers übertragen hatte. Statt Shorter übernahm kurzzeitig Sam Rivers den Job in Miles’ Quintett, dokumentiert auf Miles in Tokyo. Das Album klingt wie ein Sparring zwischen zwei Platzhirschen, die jeder für sich die Führung der Herde an sich reißen wollen. Dieses Höchstmaß an Spannung mag zu viel für Miles gewesen sein. In seiner Autobiografie verliert er darüber kein Wort. Nach einer einzigen Japan-Tournee war Schluss – und in New York wartete dann doch Wayne Shorter.

„Als Wayne in die Band kam“, so Davis, „passierte viel mehr, entwickelte sich alles viel schneller, weil er ein echter Komponist ist. […] Wayne war neugierig, er experimentierte gern mit musikalischen Regeln. Wenn sie nicht passten, setzte er sich drüber weg, aber mit musikalischem Gefühl; er wusste, dass Freiheit in der Musik das Wissen um ihre Regeln voraussetzt, um sie sich dann nach eigenem Geschmack und Bedürfnis zurechtzubiegen. Wayne lebte in seiner eigenen Welt und kreiste um seinen eigenen Planeten. Die übrigen Musiker in der Band standen auf der Erde.“

Miles gab Shorter alle erdenklichen Freiheiten, nannte ihn gar den Katalysator und musikalischen Kopf seiner Band. Dieser Paradigmenwechsel kommt auf dem vierten Doppelalbum der Box zur Geltung. Obwohl nur in einer Position verändert, hören wir am 1. Oktober 1964 auf dem Paris Jazz Festival eine komplett andere Band. Das Material als solches war noch dasselbe wie ein Jahr zuvor, Shorter trat noch nicht als Komponist in Erscheinung – und doch scheint er die Stücke beim Spielen stets als Sprungbrett für neue, spontane Kompositionen zu nutzen. Shorter und Davis werden zu einander komplementierenden Gegenpolen, aber nicht wie zuvor im Rivers-Intermezzo zu Antipoden. Die Band gewinnt an intuitiver Tiefe, Eleganz und Geschmeidigkeit, und auch Miles’ eigenes Spiel wird durch Shorter ungebundener, hochseiltänzerischer und selbstvergessener. Die Band war komplett für ihre Reise durch den Rest der 1960er Jahre.

Miles in France 1963 & 1964 ist ein Geschenk, weil die Box nicht nur zwei Frankreichbesuche des zweiten Quintetts dokumentiert, sondern plausibel die Geschichte der Geburt einer prägenden Formation des Jazz der 1960er Jahre erzählt.

Alle Miles-Davis-Zitate aus Miles Davis: Die Autobiografie, Hamburg, Hoffmann & Campe, 1990

Aktuelle Alben:

Miles Davis Quintet: Miles in France 1963 & 1964 – The Bootleg Series, Vol. 8 (Legacy Recordings / Sony)