Sun Ra Arkestra

Im Spiralnebel

Der Leiter des Sun Ra Arkestra hat runden Geburtstag
Marshall Allen feiert am 25. Mai 2024 seinen 100. Geburtstag und ist immer noch hochaktiv,
reist mit seiner bunten Truppe unermüdlich um den Globus.
Foto © Manfred Rinderspacher


Sun Ra bei einem Auftritt 1988 im Mannheimer Konzerthaus Capitol
Foto ©ÊManfred Rinderspacher

Mehr als 30 Jahre nachdem Sun Ra auf eine andere Daseinsebene wechselte, ist sein Arkestra immer noch flugfähig. Das ist vor allem Marshall Allen zu verdanken, der 1995 die musikalische Leitung übernahm. Dessen 100. Geburtstag feiert das Arkestra mit einem Album, das auch 100 Jahre Jazzgeschichte durchquert.

Von Eric Mandel

So wie der Jazz – und so wie der Musiker Sonny Blount, der später zu Sun Ra wurde – kommt auch Marshall Allen aus dem Süden der USA. Geboren in Louisville, Kentucky, stieß der Altsaxofonist in Chicago erstmals zu Sun Ras Truppe, die damals bereits als (allerdings sehr professionelles) Kuriosum galt. Seit 1958 zählt er neben John Gilmore und Pat Patrick zu den Säulen des Arkestra. Ganze Stücke basieren auf Parts, die Ra ihm auf den Leib schrieb. Allen spielte dabei auch Flöten, Oboe so wie das elektronische Instrument EVI.

Das mittlerweile denkmalgeschützte Haus in der Morton Street in Philadelphia, in das die Band 1968 umzog, gehörte seinem Vater. Heute bildet Allen hier junge Musiker*innen für das Arkestra aus und verwaltet dessen Songbook, das er beständig weiterentwickelt und ergänzt. Neben zahlreichen Konzertreisen nahm die Band zuletzt die Studioalben Swirling (2020) und Living Sky (2022) auf. Während sich auf ersterem Neuinterpretationen des klassischen Repertoires finden, enthält Living Sky verstärkt Kompositionen von Marshall Allen sowie neue Arrangements, in denen sich seine mit Sun Ras Ideen verschränken. Diese Modernisierung und Rekontextualisierung setzt sich auf dem Album Lights of a Satellite fort, das in der New Yorker Power Station für das Freiburger Label IN+OUT Records aufgenommen wurde. Produziert von Frank Kleinschmidt, ist es explizit als Würdigung von Marshall Allens Lebenswerk konzipiert.

In einem während der Sitzungen gedrehten YouTube-Video des Titelstücks ist zu beobachten, was viele sich immer noch nicht richtig vorstellen können: dass das auf der Bühne bunt kostümierte, außerweltlich quirlig und scheinbar chaotisch aufspielende Orchester in zivil auch nur aus hochkonzentrierten hochprofessionellen Musiker*innen besteht. Niedliches Detail: das Kind, das unter Kopfhörern in der Gesangskabine vor sich hindöst, während die Erziehungsberechtigte ihren Streicher-Part einspielt. Auch ist zu sehen, dass Allen zwar nach wie vor seinen Platz auf der Brücke hält, das Tagesgeschäft aber bereits einem weiteren Deputierten übertragen hat: Tenorist Knoel Scott dirigiert das An- und Abschwellen des 24-köpfigen Arkestra.

Das von einem Klavier-Ostinato angetriebene Titelstück eröffnet das Album und gehört zu den obskureren Sun-Ra-Originalen, die Allen für die Aufnahmen arrangiert hat. Dazu kommen die bekannteren Nummern „Tapestry from an Asteroid“ mit Gesang von Tara Middleton, „Images“ vom Album Jazz in Silhouette (1959) und das nach allen Seiten offene und entsprechend oft neuinterpretierte Stück „Reflects Motion“. „Baby Won’t You Please Be Mine“ dagegen ist die Weltpremiere einer auf das Jahr 1955 zurückgehenden Sun-Ra-Komposition, auf die Allen im Nachlass stieß. Es trägt noch die Spuren von Ras Doo-Wop-Zeit mit dem Sänger Yochanan, doch das Arkestra spielt die Nummer so lasziv, als hätte er es für Billie Holiday geschrieben. Tatsächlich gibt es zahlreiche Swing-Nummern auf dem Album, auf die Ra selbst gerne zurückgriff, darunter Fletcher Hendersons „Big John‘s Special“ und „Holiday for Strings“, ein Beispiel für seinen unironischen Umgang mit Pop und Kitsch, den Allen ohne mit der Wimper zu zucken fortführt.

Asteroiden und Satelliten

Im Vergleich zur militärischen Präzision anderer Traditionsorchester von Count Basie bis Herbolzheimer ist wohl keines so „loose“ und dennoch „united“ unterwegs wie das Arkestra. Wie stets ist es eine Erfahrung, einer Mehrspuraufnahme des Ensembles zu lauschen. Percussion und Satzspiel sind plastischer als auf den oft mumpfigen Stereo-Aufnahmen des Katalogs, Streicher und Stimmen kommen zur Geltung, ohne sich überanstrengen zu müssen. Auch das unvermeidliche, aber geschmackvolle Synthesizerspiel, das die Satelliten und Asteroiden in den Songs und manchmal ganze Spiralnebel verkörpert, ist in Harmonie mit den brodelnden Bläsern, Gitarren-Schraffuren und eingeworfenen Stimmen, die den Kosmos des Arkestra ausmachen. So wird „Friendly Galaxy“ vom Album Secrets of the Sun (1965) zum 13-minütigen Weltraumspaziergang mit einem gelassenen – in Ras Welt: „ägyptischen“ – Groove und voller Ausschöpfung des Stereo-Panoramas.

Dagegen endet das Album mit „Way Down Yonder in New Orleans“ so traditionell wie diesseitig – und ungefähr dort, wo die Geschichte für Sonny Blount und Marshall Allen einst begann: in den Südstaaten. Das von Ra gepflegte kosmische Narrativ, das ihn zum Liebling der (weißen) Hipster machte, aber auch zur Zielscheibe seiner Kollegen, wird von Allen sanft auf den Erdboden zurückgeholt. Lange genug war Ra zum verrückten Genie verklärt worden, und es war seinem Nachfolger offenbar ein Anliegen, diesen Faktor nicht auszubeuten, sondern mit der Spiel- und Lebenspraxis des Arkestra zu verknüpfen.

Nicht zuletzt geht es wohl auch darum, auf der musikalischen Ebene den Respekt einzufordern, den die Band verdient. 30 Jahre nach seinem Tod ist Sun Ras Vision von einer friedlichen Welt in kosmischer Harmonie zwar weiter entfernt als je zuvor. Seine Musik aber hat für zahlreiche Adepten, Verehrer und Nachahmer neue Türen der Wahrnehmung geöffnet. Dank Fürsprechern wie Gilles Peterson und J Dilla ist er auch bei einer Generation angekommen, die über Umwege wie HipHop, Afro-American Studies, Shazam oder Spotify zu ihm gefunden haben mag – und die dank Allens Standhaftigkeit noch Gelegenheit hat, das Arkestra live und in Aktion zu erleben. So ist zwar Sun Ras Musik erfolgreich von der Kulturindustrie absorbiert worden, die zu zerstören er einst angetreten war, doch dadurch ist sie, wie Sibylle Zerr in den Liner Notes feststellt, wirklich zur Musik des 21. Jahrhunderts geworden.

Aktuelles Album:

Sun Ra Arkestra / Marshall Allen: Lights on a Satellite (IN+OUT Records)