In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Alice Zawadski / Fred Thomas / Misha Mullov-Abbado

Za Górami

ECM / Universal
4 Sterne

Hinter den Bergen“ lautet die wörtliche Übersetzung von „Za Górami“ aus dem Polnischen. Das ist der Titel eines traditionellen Volkslieds, auf dem wiederum das packende Titelstück dieses ansonsten vorwiegend lyrisch gestimmten Albums basiert. Die britische Sängerin, Violinistin und Komponistin Alice Zawadski hat es mit ihren langjährigen Wegbegleitern, dem Pianisten Fred Thomas, der hier auch Fidel und Schlagzeug beisteuert, und Kontrabassist Misha Mullov-Abbado in Lugano „hinter den Voralpen“ aufgenommen. Zugleich handelt es sich um eine rhetorische Formel, die den Beginn eines Märchens, einer Sage, einer mythischen Erzählung markiert, gleich einem „Es war einmal“. Die Hälfte der zehn Stücke auf Za Górami entstammt der Literatur der sephardischen Kultur, die Texte dieser Lieder sind in Ladino formuliert, der romanischen Sprache der sephardischen Juden. Zawadski, Jahrgang 1985 und Tochter einer englischen Linguistin und eines polnischen Historikers, interpretiert Songs wie „Dezile A Mi Amor“, „Los Bilbilikos“, „Dame La Mano“ und „Nani Nani“ so respektvoll wie einfühlsam, kreiert mit Thomas und Mullov-Abbado eine Atmosphäre des Aufmerkens und -horchens, bettet die Preziosen sorgsam auf nachtschwarzen Samt. Nahtlos fügen sich Gustavo Santaolallas „Suéltate Las Cintas“, „Tonada De Luna Llena“ der venezolanischen Sängerin Simón Diaz und Thomas’ James-Joyce-Vertonung „Gentle Lady“ in das folkloristische Kammerjazz-Panorama ein. Zeitlose Schönheit anderer Ordnung: „Je suis trop jeunette“ nach einem 1550 veröffentlichten Chanson von Nicolas Gombert, Mitglied der Hofkapelle von Karl V.

Harry Schmidt

Joel Lyssarides & Georgios Prokopiou

Arcs & Rivers

ACT

4,5 Sterne

Eigentlich ist der Jazz ja allen Genres und allen Instrumenten gegenüber offen. Die Bouzouki ist in dieser Hinsicht allerdings bislang eine Rarität, sieht man einmal von der Zusammenarbeit von Nana Simopoulos mit Künstlern wie Charlie Haden oder Dave Liebman ab, in der die griechische Langhalslaute gerne mal zum Einsatz kam. Das wollen Pianist Joel Lyssarides und Saiten-Virtuose Georgios Prokopiou ändern. Ihr Album Arc & Rivers könnte genau das erreichen. Das warme, weiche, perlende Spiel von Lyssarides und die stilistische Vielfalt Prokopious erschaffen wahrlich traumhafte Klangteppiche, prickelnde Balladen und atemberaubend rasante Stücke, in denen sich beide austoben können. Großartig etwa „A Night in Piraeus“, wo Prokopious Fingerfertigkeit an die von Paco de Lucia erinnert, oder auch das kraftvolle „Kamillieriko Road“, bei dem die Verwandtschaft der griechischen und der orientalischen Musik unüberhörbar ist (gleiches gilt für „From East to West“). Lyssarides, der sich während der Corona-Pandemie selbst eine Bouzouki gekauft hat und beim Stöbern nach lehrreichen Videos durch Zufall Prokopiou bei der Aufzeichnung eines Tribute-Konzertes für Mikis Theodorakis entdeckte, setzt an einem alten Flügel von Alfred Brendel stets einen harmonischen Kontrapunkt: ganz entspannt wie bei dem sich wiegenden „Orange Moon“ oder bei „Rivers“, auch mal sprunghaft wie bei „Zafeirious Solo“, der einzigen Fremdkomposition dieses fantastischen Albums.

Thomas Kölsch

Bill Frisell / Kit Downes / Andrew Cyrille
Breaking the Shell
Red Hook Records / Galileo
3,5 Sterne
Kit Downes ist einer der profiliertesten Tastenmusiker der britischen Jazzszene. Ob Flügel, E-Piano oder Synthesizer – der Engländer, der mittlerweile neben London auch in Berlin lebt, ist auf jedem Tasteninstrument ein äußerst kreativer Virtuose. Vor Jahren hat sich Downes abermals der barocken Pfeifenorgel zugewandt, die ursprünglich sein erstes Musikinstrument war. Er unternahm eine kleine Tour durch englische Kirchen, um deren Orgeln zu erkunden. Auch in der Kirche St. Luke in the Fields im New Yorker Greenwich Village in Manhattan steht ein solches Monster mit 27 Registern und 1.670 Pfeifen. Zu einer zweitägigen Aufnahmesession kam Downes hier im Mai 2022 mit Gitarrist Bill Frisell und Schlagzeuger Andrew Cyrille zusammen, um frei zu improvisieren, aber auch ein paar ausnotierte Kompositionen einzuspielen. Ein knappes Dutzend Titel schafften es auf das Album. Die Musik wirkt am interessantesten, wenn die drei sich auf klangmalerisches Terrain begeben, d.h. den Vorgaben der Orgel folgen, die in anderen Zusammenhängen schwerfällig und bombastisch klingen kann. In solch freien Explorationen lotet Downes das Klangpotenzial des Pfeifeninstruments aus: er lässt es atmen und entlockt ihm perlende Läufe sowie mächtige Akkorde, während Frisell in die Trickkiste seiner Klangmanipulatoren greift und der 82-jährige Cyrille auf dem Schlagzeug sparsam Akzente setzt.
Christoph Wagner