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In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!
Møborg 2
Falling Silent
Unit Records / Membran
4 Sterne
Møborg ist eine Bauerschaft im dänischen Westjütland. In einem Haus nahe der Abzweigung zu diesem Flecken hatte Lars Arens glückliche (Urlaubs-)Tage seiner Kindheit verbracht. Unbeschwerte Zeiten – anders als heute. Der deutsche Posaunist und Komponist, der einst wie so viele das BuJazzO durchlief, lebt schon länger in Lissabon. Mit Møborg 2 fängt er ein, was ihn ganz persönlich mehr noch bewegt, Teil zwei – und das auf ganz eigene berückende Weise. Freimütig räumt er ein, dass viele Stücke wichtige Situationen der letzten Jahre reflektieren. Komponiert hat er für eine Art Kammer-Quintett, besetzt mit exzellenten, bestens aufeinander eingestimmten Musikern/Musikerinnen aus Portugal: Posaune (oder Euphonium), Trompete (oder Flügelhorn), Klarinetten sowie Cello und Gitarre (elektrisch oder akustisch). Vieles ist detailreich ausnotiert, die klar abgesteckten Solo-Parts bleiben ganz dem Gestus der Stücke verpflichtet. Als ausgemachter Melodiker verbreitet Arens’ Fünfer schon mal beherzte Wohlfühl-Atmosphäre, gleitet dabei musikalisch aber nie in Leichtgewichtiges ab. „Heidis Heimweh“ wartet mit alpin-volkstümlichen Anklängen auf, die im Zuge des Arrangements punktuell gewitzt unterwandert werden. Später im Programm bratzt auch mal ein Gitarrenriff, schlägt das Ensemble in verschiedene, auch herausforderndere Richtungen aus. Der rote Faden ist die offenbar wohl gereifte Vision dieses speziellen Ensemble-Sounds. Zum Finale der attraktiven Stunde wird’s ernst: Im rezitierten Text des Titelstücks geht es um das bedenkliche Insektensterben. Auch diese Mahnung: ein zutiefst persönliches Anliegen.
Arne Schumacher
Lennart Allkemper
Awakening
Jazzline / Broken Silence
4,5 Sterne
Eine angenehm warm und lebendig klingende Aufnahme – das ist mein erster Eindruck vom Solo-Debüt des Kölner Saxofonisten und Komponisten Lennart Allkemper, Jahrgang 1992. Wer schon mit zwölf Jahren einen ersten Preis bei „Jugend jazzt NRW“ gewonnen hat, beherrscht mit Anfang 30 sein Handwerk wie der berühmte alte Hase. Allkemper hat in Köln und Amsterdam Jazz studiert und diverse Auszeichnungen bekommen. Er spielt mit klarem, fast vibratofreiem Ton. Seine anfangs zurückhaltenden Linien mutieren oft zu puren Energieschüben, um sich dann wieder auf ganz eigene Art zurückzuziehen. Ein spielerischer Ausdruck und eine Klangsprache, die absolut authentisch wirken, am Sopran- wie am Tenorsax. Überzeugen können auch Bassist Stefan Rey, dessen großartige Soli und kraftvollen Töne an Kontra- und E-Bass in dieser Produktion sehr gut eingefangen wurden, sowie der so zurückhaltend wie verlässlich tragende Schlagzeuger Niklas Walter und der großartige Pianist Billy Test (unter anderem Mitglied der WDR Big Band). Der transferiert sogar eine Allkemper-Komposition namens „Bottrop“ in die weite Jazz-Welt und liefert packende Soli ab, auch am perlenden E-Piano. Wenn der Bandleader in „Ginseng“ dann mit sprödem Tenor-Sound und interessanten Tonsprüngen ein weiteres Mal überrascht und die ganze Band in „Rear Up“ fliegt, freue ich mich auf mehr.
Lothar Trampert
Sigurd Hole Ensemble
Extinction Sounds
Elvesang / Galileo
4,5 Sterne
Eine Zeitreise in seine Kindheit unternommen hat der norwegische Bassist Sigurd Hole für Extinction Sounds. Entstanden im Auftrag des interdisziplinären Festivals TronTalks in Zentralnorwegen, handelt es sich um ein Kontrabasskonzert im Kammerorchesterformat. Dafür hat sich Hole der Mitwirkung von Jon Balke (p), Torben Snekkestad (sax, trp), Sara Övinge (voc), Bendik Bjornstad Voss (viola), Tanja Orning (cello), Anders Kregnes Hansen (marimba, perc) und Veslemoy Narvesen (dr, perc) versichert. In den acht Sätzen spürt Hole seinen Erinnerungen an die sommerlichen Aufenthalte in der Hütte seiner Familie nach. Die Geräusche der Schafsherde seiner Eltern, der Glocken der Tiere, der Insekten, der Vögel – all das hat er eingefangen in gespinstartige Kompositionen voller diskreter Klangereignisse und -gesten, die sich nicht selten an die Möglichkeiten der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts anlehnen: etwa die phasenverschobenen Ostinati der Minimal Music („Mountain Stream“) oder erweiterte Spieltechniken aus dem Bereich der Neuen Musik (vor allem im zentralen „Four Rooms“). Eingebettet ist das in landschaftliche Weite. Zugleich reflektiert Hole mit Extinction Sounds auf den krisenhaften Zustand der Gegenwart, womit das komplexe Album auch als Echo des Artensterbens gehört werden kann. Was an dieser Stelle 2020 zum Vorgängerwerk Lys / Mørke stand, gilt auch für seine jüngste Veröffentlichung: vorwiegend kontemplativ, aber von großer Intensität. Hole bleibt der Philosoph unter den skandinavischen Jazzern.
Harry Schmidt