In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!
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Nicole Johänntgen
Labyrinth II
Selmabird Records
5 Sterne
Labyrinth II markiere die Nummer 28 ihrer Veröffentlichungen, erfährt man auf der Homepage von Nicole Johänntgen. Wie beim „Labyrinth“-Vorgänger hat die vielfach ausgezeichnete Saxofonistin und Komponistin, geboren 1981 im saarländischen Fischbach-Camphausen, auch auf den 13 neuen Tracks auf den US-amerikanischen Tubisten Jon Hansen und den Schweizer Perkussionisten David Stauffacher vertraut, beide Wahl-Züricher wie Johänntgen selbst. Das Ergebnis der unkonventionellen Besetzung erteilt die Lizenz zum Schwärmen: Nur selten vermag ein Album, seine Hörer so durchgängig in Bann zu ziehen. Dem bluesigen New-Orleans-Vibe in „With Love“, dem wundervollen Opener dieses wundervollen Albums, sind – nicht gänzlich ohne Augenzwinkern – warm-bernsteinfarbene Töne der Nostalgie beigemengt. Der aufs Äußerste verknappte Drive im Funk-Groove von „Elephant Walk“ ist schlichtweg umwerfend. Selbstredend gerät hier auch eine Ballade wie „Bluebird“ hochspannend. Mit brasilianischen Kleinperkussions-Instrumenten wie der Schellenkranz-Rahmentrommel Pandeiro oder der Gefäßrassel Afoxé trägt Stauffacher Latin-Rhythmen und -Farben an, teilweise wie in „Pandeiro, Sing It Baby!“ auch mit einem Touch karibischen Flairs. „Waves II“ ist dann fast ein Choral in Zartbittertönen, „In Honour of Arthur Blythe“ eine Verbeugung ohne ein Gramm Pathos, stattdessen mit gespielten Digital-Glitch-Effekten. Wobei sich die freilich in Hülle und Fülle vorhandene Virtuosität hier oft nur subkutan offenbart – auch das gehört zu den Wundern dieses Ausnahmealbums. So souverän wie unprätentiös: unfassbar gelungen, das alles.
Harry Schmidt
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Backseat / The Orchard
5 Sterne
„Läck, grober Text!“, schreibt der des Schwyzerdütschen mächtige Mann, während er das Album hört. Und noch: „This is rather nice!“ Mit beidem hat er Recht, denn die Zürcher Sängerin, Komponistin und Bratschistin Gina Été ist wütend. Sehr wütend. Aufs sogenannte Establishment, das der Flüchtlingskrise, dem beschleunigten Klimawandel oder Trumps Präsidentschaft ihrem Debütalbum Erased By Thought (2021) zufolge nichts entgegenzusetzen hat. Auf Prosopagnosia beschäftigt sich Été vor allem mit dem Alsfraugeborensein in unserer Gesellschaft, wobei sie heiße Eisen wie Sexarbeit, Abtreibung oder Regretting Motherhood unverblümt anpackt. Und das gern ebenso four-letter-word-reich wie quadrilingual. Etwa auf „F***you:you“, das das Zeug zur neuen Hymne weiblichen Angepisstseins hat. Ansonsten kleidet Été ihre Botschaft keineswegs in korrespondierend aggressive Klänge. Nachgerade verträumt geben sich die zehn Tracks, begonnen mit dem Pizzicato-Loop-unterlegten „Prolog“ samt viel Gehauch und feenhaftem Chor, dessen Zartheit in krassem Kontrast zu den Lyrics steht. Beispielhaft auch „Your Opinion“, das opulente Orchestrierung mit dunklem TrapStep vereint, gekrönt von soghaftem Sirenenrefrain. Ganz selten nur gibt’s dirty Bass-Ostinati wie auf „Blindside“, die klanggewordenes Elektrozaunanfassen sind – im Übrigen bewegt sich Été musikalisch durchweg im Geisterhaft-Sphärischen, das, wenn man die Message weglässt, eines ist: einfach gute Musik. Eben „e geili Platte“, wie der Mann sagen würde.
Victoriah Szirmai
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Dominik Raab Quartet
Mocambo Affair
JazzJazz / Galileo MC
4 Sterne
Mocambo Affair ist das zweite Album, das der Kölner Schlagzeuger Dominik Raab unter seinem Namen veröffentlicht. Sämtliche Kompositionen stammen aus seiner Feder. Für die Produktion hat er erneut auf Tony Lakatos (sax), Billy Test (p) und Doug Weiss (b) gebaut – eine erstklassige Besetzung. Das Raab Quartet ist stilistisch fest verwurzelt in klassischen Hardbop-Varianten. Eine Art Klammer des Albums bilden die Form und das relaxte Gefühl des Openers „Staring at the Sun“ und des Schlusstitels „Sneaky.“ Innerhalb dieses musikalischen Feldes finden sich mitreißende Nummern wie „Add 4“ und „Quick Sip“. Ein roter Faden, der sich durch die Veröffentlichung zieht, ist die Kombination aus Ernsthaftigkeit und originellem Spielwitz. Einiges scheint bekannt und voraussehbar, nimmt dann jedoch interessante, unerwartete Wendungen. In manchen Kompositionen verarbeitet Raab Alltagserlebnisse und Erinnerungen, ohne Klischees zu bemühen. So verbirgt sich hinter „Alfred Jodokus Kwack“ – das ist die einst von Herman van Veen erfundene Comic-Ente – eine poetische Ballade mit wunderbaren melodischen Wendungen. Mocambo Affair ist ein Album, dass an Vertrautes anknüpft, Zuhörende aber durch manche Überraschungen und ein durchweg packendes Zusammenspiel mitnimmt.
Thomas Bugert