In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Emma Rawicz & Gwilym Simcock

Big Visit

ACT / Edel

5 Sterne

Bei einem Festakt Anfang 2023 (anlässlich von Gwilym Simcocks 40. Geburtstag) hat der Pianist erstmals mit der jungen Saxofonistin musiziert – nur ein Jahr später gastierte das Duo bereits auf vielen Festivals. Emma Rawicz, die in der Coronazeit mit Videos auf Instagram ihre Karriere startete, ist eine stilistisch gefestigte, improvisatorisch hoch kompetente Solistin. Simcock, schon lange als „der neue Keith Jarrett“ gefeiert, gehört heute zu den größten Klaviervirtuosen im Jazz. Auch wenn die beiden im Alter fast 20 Jahre auseinander sind: Sie liegen auf gleicher Linie, haben dieselben Helden – zum Beispiel Jan Garbarek und Keith Jarrett. An deren legendäres Quartett erinnert vor allem das erste Stück („His Great Adventure“): Das Thema ist plastisch geformt, Rawicz spielt mit sprödem Garbarek-Ton, Simcock ergänzt aggressive Rhythmik und orchestrale Dichte. Aber die Rawicz kann auch anders, lässt das Tenor später weich und hoch klingen wie ein Alt, mit bewundernswerter Intonation – und das Sopransax beherrscht sie außerdem. Neben vier großartig gebauten Stücken, die die beiden speziell für ihr Duo komponiert haben, gibt es noch zwei Standards, zuletzt sogar eine echte Jazzballade („You’ve Changed“). Ein sensationelles Album, das beiden Protagonisten gerecht wird.

Hans-Jürgen Schaal

Daniel Erdmann’s Organic Soulfood

Into the Sweet Unknown

BMC Records / Galileo MC

4 Sterne

Was in den 1950er Jahren als letzter Schrei galt, hört sich heute vielfach weniger aufregend an. Das Orgeltrio im Jazz, wie es Jimmy Smith und andere verkörperten, ist ein solches Bandformat, das schlecht gealtert ist und über die Jahre rapide an Attraktivität verloren hatte. Bandleader und Saxofonist Daniel Erdmann hat sich vorgenommen, das mit seinem Organic Soulfood-Trio zu ändern. Mit einem Bein in der Vergangenheit, mit dem anderen in der Gegenwart kreiert die Gruppe eine Musik, die sich ihrer Souljazz-Herkunft bewusst ist und doch darauf abzielt, neue Funken aus diesem klassischen Jazzformat zu schlagen. Jede der acht Kompositionen ist genau durchdacht, wobei jeweils ein anderer Ton angeschlagen wird, der Elemente aus Jazz, Rock, Latin und Funk auf unterschiedliche Weise mischt. Erdmann brilliert auf dem Tenor- und Sopransaxofon mit klaren Phrasen und sprudelnder Energie, während Drummer Jim Hart im Groove-Spiel die größte Wirkung entfaltet, aber auch in gedämpften Passagen mit den Besen umzugehen weiß. Die Orgel von Antonin Rayon, der auch Synthesizer spielt, sorgt für einen vollen Sound und wartet in den Improvisationen mit bunt schillernden oder funkelnden Tönen auf. Das klingt aufregend und frisch und haucht einem scheinbar antiquierten Bandformat neues Leben ein.

Christoph Wagner

Georg Ruby
Soliloquies
JazzHausMusik

4,5 Sterne

Wir werden doch nicht etwa proben, oder?“, soll Gary Peacock mal zu Paul Bley gesagt haben, bevor die beiden für ein Duo-Album ins Studio gingen. Bleys Antwort – „Nein, die Probe findet nach der Aufnahme statt“ – zeigt, dass es beim Improvisieren einerseits darum geht, frei genug zu sein, um sich immer wieder neu auf das Abenteuer der Musik im Moment ihrer Entstehung einzulassen. Andererseits gehört dazu aber auch die Bereitschaft, dieses Abenteuer als Prozess zu verstehen, den es immer wieder zu modifizieren gilt: um erneut offen zu sein für ein anderes Konzept, ein anderes Experiment. So ist Georg Ruby, einer der brillantesten innovativen Pianisten des Landes, auf seinem aktuellen Soloalbum Soliloquies (Selbstgespräche) nicht nur mit freien Improvisationen zu hören, in die er nach eigener Aussage „Ahnungen und Spuren traditioneller Jazz-Standards“ genauso einfließen lässt wie die „Atmosphäre des deutschen Schlagers der 1920er/1930er Jahre“. Er tritt auch in einen experimentellen musikalischen Dialog mit sich selbst. Bei drei Stücken („Cumpleaños“, „Terça-feira à noit“, „Terça-feira à tarde“) nahm er jeweils vier frei improvisierte Spuren (u.a. mit präpariertem Klavier und Vokalimprovisationen) im Voraus auf. Danach bat er den Sounddesigner Reinhard Kobialka, ohne jede vorherige Absprache ganz intuitiv immer wieder eine, zwei, drei oder alle vier Spuren in sein Spiel ein- und wieder auszublenden, um ihn so „in den Modus improvisatorischer Kommunikation zu bringen“. Was im Ergebnis: sehr spannend ist!
Robert Fischer