In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!
Anna Sophia Defant
s:e
Unit / Membran
4 Sterne
Freejazz kann recht eintönig sein! Doch wie der Falle entgehen, dass das freie Spiel sich fortwährend um die eigene Achse dreht? Das junge Quartett s:e der österreichischen Pianistin Anna Sophia Defant hat den Weg der Post-Produktion gewählt. Das heißt: Zuerst wird frei improvisiert, dann werden die Improvisationen im Studio seziert und einzelne Sequenzen destilliert, die dann durch Nachbearbeitung mittels Cuts und Overdubs zu Stücken ausgearbeitet werden. So wird Gleichförmigkeit vermieden, indem jeder Titel einen eigenen Charakter erhält. Das ist nicht neu: Schon Teo Macero arbeitete mit Miles Davis in seiner elektrischen Phase nach diesem Prinzip. Was den Gruppensound des Defant-Quartetts betrifft, erinnert s:e gelegentlich an die Gruppe Last Exit mit Brötzmann, Laswell, Shannon-Jackson und Sharrock, die Ende der 1980er Jahre den freien Jazz elektrifizierten. Das ist hier vor allem dem japanisch-österreichischen Gitarristen Kenji Herbert zu verdanken, der einmal nicht Kurt Rosenwinkel nacheifert, sondern eher in Richtung Sonny Sharrock tendiert und Widerhaken in den musikalischen Prozess einbaut. Von brachialen bis zu meditativen Stücken reicht das Spektrum der Titel, die nie ausufern, sondern immer knapp gehalten sind, dazu immensen Formwillen beweisen, was dieses Debütalbum zu einer recht kurzweiligen Angelegenheit macht.
Christoph Wagner
–
Ronny Graupe’s Szelest
Newfoundland Tristesse
BMC / Galileo
5 Sterne
Vor dem Erwerb dieses Albums muss dringend gewarnt werden: Der (Hör-)Genuss verursacht eine stark suchtgefährdende Wirkung, wie eine Art musikalische Droge. Allerdings ist die sicher nichts für jeden, und auch von denjenigen, die auf sie „ansprechen“, erfordert sie höchste Aufmerksamkeit. Das heißt konkret: Nur mal so eben nebenbei anhören funktioniert bei diesem Album nicht. Auf diese Musik muss man sich schon einlassen – fast scheint es, als erwarte sie von Hörenden die gleiche Konzentration, mit der sie auch entstanden ist. Das vorausgesetzt haben wir es hier mit einem Meisterwerk zu tun. Entstanden ist das Projekt während der Pandemie, als der Gitarrist Ronny Graupe eine Serie gestreamter Konzerte organisierte, zu der er auch die Schweizer Sängerin Lucia Cadotsch einlud, um Standards zu interpretieren. Zum Trio wurde das Ganze mit dem Pianisten Kit Downes, der sich wie Cadotsch als kongenialer Partner für eine Musik erwies, die sich jeder Kategorisierung entzieht. Auf dem Album zu hören sind neben einigen völlig eigenständig arrangierten Standards auch Eigenkompositionen von Graupe, für die die Vokalistin stimmungsvolle Lyrics schrieb. In beiden Fällen denkt man am ehesten an eine ganz neue, eigenständige Form des Kunstlieds, die allen drei Stimmen gleichwertig Raum und Zeit gibt – mit dem eingangs erwähnten Effekt einer zwar suchtgefährdenden, in diesem Fall aber guten, die Seele reinigenden und heilenden musikalischen Droge.
Robert Fischer
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Dino Saluzzi, Jacob Young, José Maria Saluzzi
El Viejo Caminante
ECM / Universal
5 Sterne
Tango? Ach, lange her. Ein Leben lang hat Dino Saluzzi sich Zeit genommen, aus der rhythmischen Sprache des Tango und dem Klang des Bandoneons einen eigenen Stil zu generieren, der mal „Tango nuevo“ genannt wurde. Im Mai ist Dino Saluzzi 90 geworden – und längst nicht mehr Vertreter irgendeiner Stil-Schublade, sondern schlicht einer der bedeutendsten Musiker Lateinamerikas. Er hat (unter anderem) mit Enrico Rava, Charlie Mariano, Gato Barbieri, Louis Sclavis, Charlie Haden und Anja Lechner gespielt. Dass sein neues Album von einer Stimmung leicht wehmütigen Zurückblickens geprägt ist, kann man ihm nicht verdenken. Zumal er viel mehr tut, als nur alte Sachen noch einmal vorüberziehen zu lassen. Sein Sohn, der Gitarrist José Maria Saluzzi, nun auch schon ein halbes Jahrhundert alt, begleitet ihn, außerdem ist der norwegische Gitarrist Jacob Young dabei. Die drei erzeugen zusammen ein weiträumiges und zugleich sehr intimes und transparentes, sorgfältig balanciertes Klangbild. Einige der Kompositionen – „Tiempos de Ausencias“ etwa oder „Buenos Aires 1950“ – kehren zu älteren Zeiten zurück oder sind ehrwürdige Jazz-Standards („Someday My Prince Will Come“). Saluzzi junior hat „La Ciudad de los Aires Buenos“ beigetragen, das wie eine Ouvertüre das Album eröffnet. Eines der drei Stücke von Jacob Young heißt „Dino Is Here“. Alles ist wie aus einem Guss, Gitarren und Bandoneon fügen sich zueinander wie alte Freunde. Dino Saluzzi selbst sieht sich als der alte Wanderer, „El Viejo Caminante“. Entsprechend ist das Stück, das so heißt, ein Bandoneon-Solo. Eine alte Geschichte in feinsinniger und geduldiger Erzählweise.
Hans-Jürgen Linke