In jeder Ausgabe der JAZZTHETIK werden die aktuellen CD und DVD Neuerscheinungen aus Jazz, Weltmusik, Elektronik, Blues, u.v.m. vorgestellt. Neben den Einzelvorstellungen gibt es auch Kolumnen zu speziellen Themen. Hier finden Sie 3 ausgewählte Rezensionen zum Probelesen!

Heiner Rennebaum Doppelquartett

BeBop Bizarre

Umland Records

5 Sterne

In den 80er Jahren war der Düsseldorfer Gitarrist Heiner Rennebaum u.a. mit dem Crossover-Oktett rimaak und dem Nu-Jazz-Projekt bonobo club aktiv. Einen gelungenen Neustart legte er dann 2019 mit dem Album Heiner Rennebaum Doppelquartett Live hin. Knapp zwei Jahre nach diesem beeindruckenden Mitschnitt hat der Gitarrist, Komponist & Bandleader jetzt BeBop Bizarre veröffentlicht: Das sehr plastisch und lebendig klingende Album wurde in den Kölner Topaz Studios von Reinhard Kobialka aufgenommen und von Fritz Hilpert (Mitglied von Kraftwerk) gemischt und gemastert. Musikalisch aktiv erlebt man hier das Streichquartett mit Julia Brüssel (v), Pauline Buss (viola), Conrad Noll & Veit Steinmann (celli) und das Jazz-Quartett von Jan Klare (sax/fl), Alex Morsey (b), Max Hilpert (dr) und Gitarrist Heiner Rennebaum wieder in kreativer Gemeinsamkeit. Und hier ist nicht der klangliche Kontrast Programm, sondern die musikalische Symbiose, die erstaunliche Sounds und Atmosphären ermöglicht. Oft kammermusikalisch ruhig, dann wieder wild jazzrockig – beim Doppelquartett ist Abwechslung angesagt. Rennebaums Gitarrenspiel kommt dabei immer wieder mit neuen Farben: Sein spielerischer Ansatz beinhaltet alle Überraschungen, die die sechs Saiten ermöglichen, von ruhigem Chord-Soloing und fast bluesigen Phrasen über blitzschnelle Licks und Arpeggios, die an John Coltranes Sheets of Sound erinnern, bis hin zu einem Crossover aus Neuer Musik und Bitches Brew mit Ringmodulator und verzerrter WahWah-Gitarre im Titel-Track dieses spannenden Albums. Gelungen!

Lothar Trampert

Jean-Jacques Rojer

Soko

Sunnyside / Broken Silence

4 Sterne

Seine Vorfahren waren bedeutende Musiker auf Curaçao, der niederländischen Karibikinsel; er selbst machte seinen Abschluss am Konservatorium in Den Haag. Nun vermischt der Gitarrist Jean-Jacques Rojer modernen Jazz mit erfrischenden karibischen Rhythmen. Sein Produzent hat ihm dafür ein New Yorker Allstar-Trio zusammengestellt mit Warren Wolf (vib), John Benitez (b) und Jeff „Tain“ Watts (dr). Dazu kommt der Percussion-Spieler Pernell Saturnino aus Curaçao, bekannt durch Chick Corea und David Sanchez. Kein Horn, kein Piano das Ganze klingt wie eine raffinierte Percussion-Band mit der Gitarre als Vorsängerin. Rojer spielt sein Instrument abwechselnd karibisch-gaumig oder zupackend-jazzig, die Rhythmen changieren zwischen trancehaftem Tanz und swingendem Push. Brasilianisches und Venezolanisches spielen herein, Zouk und Bolero, Zumbi und New Orleans, aber alles verwandelt, verfeinert, verzinkt durch einen starken Jazz-Spirit. Das ist virtuos und fern aller sentimentalen Naivität und steigert sich im letzten Thema („Brua“) zu abstraktem Karibik-Bop. Stark.

Hans-Jürgen Schaal

Borderlands Trio

Wandersphere

Intakt / Harmonia Mundi

4 Sterne

Angesichts der aktuellen Vielzahl unterschiedlichster Jazzpianotrios könnte man meinen, dass das Format inzwischen ausgereizt ist. Das Borderlands Trio aus New York belehrt uns eines Besseren. Hochkarätig besetzt, verblüfft die Formation durch ihre Fähigkeit, bisher unbekanntes musikalisches Terrain zu identifizieren und auszukundschaften. Die Gruppe von Kris Davis (p), Stephan Crump (b) und Eric McPherson (dr) war noch auf ihrem Debüt-Album vor vier Jahren stärker im freien Jazz angesiedelt mit gelegentlichen Abstechern in die Minimal Music. Die aktuelle Einspielung ist dagegen um einiges rhythmischer gehalten. Obwohl weiterhin das spontane Musizieren dominiert, finden die Improvisationen zumeist über durchlaufenden Beats und verzahnten Metren statt, was konzeptionell an den elektrischen Miles Davis um 1970 erinnert, der ja eigentlich Freejazz spielte, allerdings über einem steten Groove. Der zweite Unterschied zum freien Spiel der Vergangenheit besteht in der Rehabilitierung der Wiederholung, die im traditionellen Freejazz verpönt war. Aus dem modalen Spielprinzip heraus entfaltet sich eine Musik, die durch Repetition und Variation zu graduellen Umschichtungen und Verdichtungen gelangt und dabei unmerklich, aber stetig ihr Aussehen verändert. Ganze vier Stücke enthält die Doppel-CD, das längste über 40, das kürzeste knapp 20 Minuten lang, was ein Hinweis auf die praktizierte Spielhaltung ist: Man lässt sich Zeit. Atmosphären und Stimmungen, Timbres und Texturen werden langsam entwickelt – und zwar im Kollektiv. Im Grenzland zwischen zeitgenössischem Jazz, Minimalismus und den Experimenten der Avantgarde hat das Ensemble zu einer ganz eigenen Identität gefunden.

Christoph Wagner